Roman

Stiller

Frisch, Max

Suhrkamp , 2014

Stiller

Bei seiner Einreise in die Schweiz wird Mister White festgenommen, weil er für die Polizei mit dem verschwundenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller identisch ist. Frühere Freunde bestätigen den Verdacht. Er aber widersetzt sich dieser Festlegung, seine Aufzeichnungen in der Untersuchungshaft wehren sich gegen diese Behauptung mit der Feststellung: »Ich bin nicht Stiller!«.

12,00  inkl. 7% MwSt.
Erscheinungsdatum 24.01.2014
Seitenanzahl 448
Verlag Suhrkamp
Preis 12.00
ISBN 9783518366059

Volker Weidermann über das Buch
Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er ist. Wer das herausfinden will, sollte reden oder schreiben. Oder lesen. Am besten Max Frisch, den Wortbildhauer

»Stiller, das ist das Buch unserer Zeit. Es handelt vom Weglaufen vor sich selbst, von der Suche nach sich selbst. Von einem übergroßen Bild von Identität, in das der Protagonist einfach nicht hineinpassen will. Warum? Weil er, wie jeder Mensch, jeden Tag ein anderer ist.

Der Bildhauer Anatol Ludwig Stiller ist ein Mann, der sich früh ein Bild von Männlichkeit gemacht hat, dem er nicht entspricht. Der sich ein übergroßes, in Stein gemeißeltes Bild von sich gemacht hat und von der Welt. Und dann beginnt das Leben, und er merkt, dass er nicht passt. Er passt nirgendwo hinein. Nicht in das Bild der Frau, die ihn liebt, nicht in das Bild der Gesellschaft, die ihn schätzt. Der Grundwitz dieses Buches ist natürlich Stillers Beruf: Bild- hauer. Ein echter Frisch-Scherz. Denn: Wer hat das Gefängnis der Identität für diesen armen Mann falsch zusammengefügt? Der Bildhauer natürlich. Er hat sich ja selbst Tag für Tag in Stein gemeißelt. Sich sein Gefängnis aus Kunst gemauert. Doch genau dafür wurde die Kunst einst nicht erfunden. Kunst ist die absolute Freiheit. Ist die Absolutsetzung des eigenen Ichs in der Welt. Ist Beweglichkeit, Radikalität, ist die Machtdemonstration eines verschwindend kleinen Ichs, das es in dieser Form nie zuvor je gegeben hat und danach nie wieder geben wird. Stiller ist so ein toller, lebendiger, beweglicher, moderner Roman, weil er diese Fluchtbewegung des Ichs in all der Verzweiflung des Ich- Flüchtlings erlebbar macht.

»Ich bin nicht Stiller!« ist der Schlachtruf, mit dem der Kampf gegen all die Stiller-Versteher da draußen beginnt. Es ist einfach herrlich und für mich immer wieder neu und abenteuerlich, diesem Freiheitskampf beizuwohnen: Lasst mir doch den Morgen, an dem ich mich selbst neu finde. Lasst mir doch mein frisches Ich jeden Tag. Lasst mir doch meinen Kampf gegen die Langeweile der erfüllten Erwartungen in jeder Minute meines Lebens. Stiller folgt dem Hölderlin-Aufruf aus längst vergangenen Zeiten: »Komm ins Offene, Freund«. Er ist nach Amerika gefahren, in die Wüste, nach Mexiko, wollte jeden Tag in der Welt sich selbst verlieren. Dumm nur, dass er stets sich selbst dabeihat. Eine besonders schöne, versteckte Pointe des Romans ist die Möglichkeit, dass der Mann im Zentrum wirklich, wirklich nicht der Stiller ist, den alle in ihm zu finden meinen und am Ende auch er selbst. Es wäre zumindest die einzige Erklärung für den Befund des Zahnarztes, der einen einst abgestorbenen Zahn im Gebiss desAnatol Ludwig Stiller wieder lebendig vorfindet.

Die Auferstehung eines Zahns? Hat man davon je gehört? Hat der Bildhauer ein Lazarus-Gebiss? Kann der Künstler Zähne wiederbeleben? Lassen wir dem angeblichen Stiller seine Freiheit für immer. Denn Schreiben ist zwar eine Bildhauerkunst des Wortes. Die Betonierung einer Geschichte in Worten. Aber während wir es tun, das Reden, das Schreiben, sind wir frei. Sind wir unterwegs ins Offene. Alles besser, als zu kapitulieren und zu schweigen. Wie Stiller sagt: »Wer schweigt, ist nicht stumm. Wer schweigt, hat noch nicht einmal eine Ahnung, wer er ist.«