Roman

Leben und Schicksal

Grossman, Wassili

Ullstein Verlag , 2020

Leben und Schicksal

Wassili Grossmans Gesellschaftsepos über die Schlacht um Stalingrad ist wie Tolstois Krieg und Frieden eines der wichtigsten Werke der russischen Literatur – ein Meisterwerk, durchdrungen von enormer erzählerischer Kraft, von tiefer Einfühlung in die Leiden der Opfer und einer umfassenden Erkenntnis über die Mechanismen hinter der Tragödie des 20. Jahrhunderts.

21,99  inkl. 7% MwSt.
Erscheinungsdatum 03.08.2020
Seitenanzahl 1088
Verlag Ullstein Verlag
Preis 21.99
ISBN 9783548064116

Karl Schlögel über das Buch
Ein Panorama, von der Wirklichkeit getränkt: Wassili Grossmans »Leben und Schicksal«

Noch in 200 Jahren werde das Buch nicht erscheinen können, wurde Wassili Grossman vom Oberzensor der sowjetischen KP im Jahre 1962 beschieden. Der KGB hatte das Manuskript 1961 beschlagnahmt. »Ich bitte um die Freiheit für mein Buch«, hatte Grossman in seinem Brief Nikita Chruschtschow angefleht. Grossman erlebte die Publikation nicht mehr – er starb nach schwerer Krankheit 1964. Eine Kopie gelangte auf abenteuerliche Weise ins Ausland und wurde 1980 im Westen veröffentlicht, in Grossmans Heimat erschien es erstmals 1988 in der Zeit der Perestroika. Als es herauskam, war schnell vom »Jahrhundertroman« und vom »Krieg und Frieden des 20. Jahrhunderts« die Rede. Als Grossman sich 1950 an den Roman machte, war er bereits ein bekannter Autor. Maxim Gorki hatte den jungen Schriftsteller gefördert.

Landesweit bekannt, ja verehrt wurde er als Kriegsberichterstatter, vor allem aus Stalingrad; daraus ging der Roman Wende an der Wolga hervor, 1958 auf Deutsch in der DDR mit Kürzungen veröffentlicht. Leben und Schicksal schließt daran an. »Spiegel des Lebens« sollte der Roman sein, geschult an den großen Vertretern des russischen Realismus, freilich weniger zuversichtlich gestimmt, ein Buch von einem Leben in einem katastrophischen Zeitalter, erfasst an einem »Scheitelpunkt der Weltgeschichte«, in dem die großen Linien von Macht und Staatsterror zusammenfallen mit zahllosen Schicksalen im Tumult eines Menschengewirrs, in dem Krieg und Gewalt alles offenlegen und sich in einer großen Katharsis das Menschlich- Allzumenschliche, das Gemeine, allzu Gemeine offenbart. Keine Zeile, die nicht getränkt ist von Wirklichkeitserfahrung, keine Landschaft, kein Ort ohne nuanciertes Detail – das Gemurmel in den Warteschlangen vor dem NKWD-Schalter, der vom Blut der Gefallenen sich verfärbende Schneehügel.

Hier kommt der Kriegsberichterstatter zu Wort, der sich mit Militäroperationen vertraut gemacht hat, bei denen es nicht um Literatur, sondern um Leben und Tod geht. Die Figuren sind aus dem Leben einer zum Überlebenskampf verurteilten Gesellschaft, nicht Träger von Ideen und Parolen. Grossman ist mit den Truppen von Stalingrad bis Berlin vorgerückt, er ist dabei, als die Sowjetsoldaten seine Heimatstadt Berditschew befreien, in der es kaum überlebende Juden gibt – der Brief seiner Mutter ist wohl einer der bewe- gendsten Texte der Shoah-Literatur, ebenso wie das mit Ilja Ehrenburg verfasste Schwarzbuch zum Genozid an den sowjetischen Juden, das ebenfalls nicht erscheinen konnte.

Grossman braucht kein Totalitarismus- Modell, er folgt nur den Spuren der Verwüstung, die totale Macht und entfesselte Gewalt in den deutschen KZs und Todeslagern hin- terlassen haben – er war bei der Befreiung von Treblinka und Majdanek dabei –, oder er hört den Häftlingen zu, die in den Lagern von Kotlas und Magadan zugrunde gehen. Sein panoramatischer Blick fasst einen Erfahrungshorizont, der lange vergessen oder verdrängt worden ist, in Russland wie im Westen. Leben und Schicksal zeigt, wie weit die Gesellschaft in der Sowjetunion der Sechziger schon einmal war in der Vergegenwärtigung einer heillosen Vergangenheit. In der »Verhaftung« des Manuskripts spiegelt sich das Schicksal einer ganzen Generation. Es scheint sich nun, nach einem kurzen Aufbruch, noch einmal zu wiederholen.